Islamisches Finanzwesen
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normativ geprägter Ansatz der Entwicklung und Distribution von Finanzdienstleistungen in Übereinstimmung mit der Scharia, d.h. den religiösen Regeln des Islam.
1. Grundlage: Das islamische Finanzwesen basiert auf dem islamischen Recht der Scharia. Aus ihm entwickelte sich im Islam ein den westlichen Vorstellungen zum Teil widersprechendes Verständnis des Wirtschafts- und Finanzsystems. V.a. wird dem westlichen wertfreien Wirtschaftsverständnis eine normative Auffassung gegenübergestellt. Das äußert sich u.a. in den beiden zentralen Imperativen des islamischen Wirtschaftsverständnisses: der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung von Individuen, die auch in der Ausgestaltung von Finanzprodukten, -dienstleistungen und -verträgen berücksichtigt werden müssen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem islamischen Finanzwesen und dem Finanzwesen westlicher Ausprägung besteht auch in einem unterschiedlichen Geldbegriff. So ist Geld nach islamischem Verständnis kein (handelbares) Gut, sondern ein praktisches Mittel, das den Handel mit Gütern und Leistungen erleichtert. Fremdkapital und Geldkredite gibt es demzufolge auch nicht. Da Geld nach islamischem Verständnis keinen intrinsischen Wert hat, ist der Preis des Geldes nicht der Zins (als Preis für die vorübergehende Zurverfügungstellung von Geld), sondern an der zeitlichen Wertveränderung real existierender Unternehmen, Güter und Dienstleistungen orientiert. Diese unterliegen der Variation kontrollierbarer und nicht kontrollierbarer Umstände (z.B. dem Einsatz eigener Handlungskompetenzen und/oder Veränderungen in der Umwelt). Die daraus resultierenden Gewinne oder Verluste sollen – i.S. der geforderten Leistungsbeteiligung beider Vertragsparteien – gerecht zwischen Geldgeber und Geldnehmer aufgeteilt werden.
Zu den für das islamische Finanzwesen besonders relevanten aus der Scharia abgeleiteten Vorschriften zählen:
a) das allg. Zinsverbot (riba), das den bedeutendsten Unterschied zwischen konventionellem und islamischem Finanzwesen darstellt, da der Finanzsektor nach konventionellem Verständnis in wesentlichen Teilen zinsbasiert ist;
b) das Spekulationsverbot (garar), nach dem alle bewussten Unsicherheiten einer Transaktion zu vermeiden sind;
c) das Glücksspielverbot (maysir), nach dem Gewinne ohne Einbringung einer eigenen Leistung ungerecht sind; verallgemeinert ergibt sich hieraus also, dass alle Gewinne (oder Verluste), die auf Risiko, Unsicherheit oder Spekulation beruhen, unverdient und damit verboten sind;
d) die Verbote von haram-Geschäften, die unter anderem Investitionen in Alkoholerzeugung/-vertrieb, Pornographie, Prostitution, Tabakherstellung und -vertrieb sowie Verarbeitung von und Handel mit Schweinefleisch betreffen. Wenn diese Verbote eingehalten werden, werden die entsprechenden Unternehmen – und die Transaktionen mit ihnen – als „halal“, also als übereinstimmend mit den Anforderungen der Scharia bezeichnet.
2. Auslegung: Aufgrund der Besonderheiten des islamischen Rechtssystems spielt die konkrete Auslegung der generellen Regeln im Einzelfall durch Rechtsgelehrte eine wichtige Rolle. Die Konformität der jeweiligen Finanzdienstleistungen mit den Vorschriften der Scharia wird durch sog. „Scharia-Boards“, bestehend aus islamischen Gelehrten, den sog. Imamen, geprüft. Dabei kann es z.T. zu unterschiedlichen Auslegungen kommen, die sich im Angebot entsprechender Bank- und Finanzdienstleistungen widerspiegeln. Darüber hinaus wurden verschiedene z.T. internationale Institutionen geschaffen, die sich mit der Scharia-Interpretation und der entsprechenden Aufstellung von Regeln für Bank- und Finanzdienstleistungen befassen. Hierzu gehören v.a. die 1991 gegründete „Accounting and Auditing Organization for Islamic Financial Institutions (AAOIFI)“ sowie das 2002 gegründete „Islamic Financial Services Board (IFSB)“ und der „International Islamic Financial Market (IIFM)“.
3. Teilbereiche: Unter das islamische Finanzwesen fallen neben dem islamischen Bankwesen die islamischen Investmentfonds, die islamische Anleihe sowie das islamische Versicherungswesen, die jeweils eigene Scharia-konforme Produkte und Dienstleistungen umfassen.
4. Markt: Sowohl die Nachfrage als auch das Angebot von islamischen Bank- und Finanzdienstleistungen wachsen deutlich. Dies stellt sich in Wachstumsraten des Sektors von über 25 Prozent p.a. während der vergangenen fünf Jahre dar. Obgleich keine vollständig zuverlässigen Zahlen vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass der Markt für islamische Bank- und Finanzdienstleistungen heute bei über einer Billion US-Dollar liegt.
5. Diskussion: Das islamische Finanzwesen ist Gegenstand verschiedener Diskussionen. Dabei geht es – neben den spezifischen Auslegungen der Scharia – v.a. um die Frage des dem Zinsverbot widersprechenden Zinsnachahmungsverdachts einzelner Produkte in Form von „Miet“-Zahlungen und/oder Preisaufschlägen (z.B. im Falle der Murabaha-Finanzierung).