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Versicherungsaufsicht
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1. Allgemeines: Die Versicherungsaufsicht ist Staatsaufsicht. Sie wird ausgeübt durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Rechtgrundlage für die Versicherungsaufsicht ist das Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz – VAG), das die staatliche Beaufsichtigung über alle Marktteilnehmer regelt, die Versicherungs- oder Pensionsfondsgeschäfte betreiben. Dieses Gesetz, das durch eine Reihe von Verordnungen ergänzt und erläutert wird, beruht ursprünglich auf dem Gesetz über die privaten Versicherungen vom 12.5.1901 – RGBl. S.139. Die letzte Neufassung datiert vom 1. April 2015 (BGBl. I S. 434) und dient vor allem der Umsetzung der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvency II).
2. Aufsichtsziele: Hauptziel der Aufsicht ist gemäß § 294 VAG der Schutz der Versicherungsnehmer und der Begünstigten von Versicherungsleistungen. Hierzu überwacht die Aufsichtsbehörde den gesamten Geschäftsbetrieb der Versicherungsunternehmen im Rahmen einer rechtlichen Aufsicht im Allgemeinen und einer Finanzaufsicht im Besonderen. Ergänzend soll die Aufsichtsbehörde die ausreichende Wahrung der Belange der Versicherten sicherstellen sowie mögliche Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf die Stabilität des Finanzsystems in den Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums berücksichtigen.
Die Finanzaufsicht beinhaltet eine Fokussierung auf die dauernde Erfüllbarkeit der Verpflichtungen aus den Versicherungsverträgen mit Schwerpunktsetzung auf die Solvabilität sowie auf die langfristige Risikotragfähigkeit der Versicherer, auf die Bildung ausreichender versicherungstechnischer Rückstellungen, auf die Anlage in entsprechenden geeigneten Vermögenswerten sowie auf die Einhaltung der kaufmännischen Grundsätze einschließlich einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation.
Die Wahrung der Belange der Versicherten manifestiert sich beispielsweise in der Gesetzeseinhaltung über die gerechte Überschussbeteiligung der Versicherten in der Lebens-, Kranken- und Unfallversicherung mit Prämienrückgewähr und der korrekten Schadenregulierung bis zur Einhaltung der Beratungs- und Informationspflichten gegenüber den Versicherten vor, bei und nach Vertragsschluss.
3. Zulassung zum Geschäftsbetrieb: Versicherungsunternehmen bedürfen gemäß § 8 VAG zum Geschäftsbetrieb der Erlaubnis der Aufsichtsbehörde. Zuständig für die Zulassung ist die Aufsichtsbehörde des Sitzlands des Unternehmens. Bei Ausweitung der Tätigkeit durch Niederlassung oder im Dienstleistungsverkehr auf andere Staaten des Europäischen Binnenmarkts ist keine weitere separate Erlaubnis notwendig. Die Erlaubnis wird für jeden Zweig gesondert oder aber für Zweiggruppen (z.B. See- und Transportversicherung) auf Antrag für den gesamten Binnenmarkt erteilt. Zugelassen werden nur Unternehmen in der Rechtsform der AG oder SE, des VVaG oder öffentlicher Anstalten oder Körperschaften (Pensionsfonds nur als AG oder VVaG). Es muss gemäß § 9 VAG ein Geschäftsplan vorgelegt werden, der zu erkennen gibt, dass die Belange der Versicherten gewährleistet und die Verpflichtungen aus den Versicherungsverträgen dauernd erfüllbar sind. Zudem sind Eigenmittel mindestens in Höhe eines bestimmten absoluten Betrags nachzuweisen (Minimum Capital Requirement). Die absolute Untergrenze hierfür beträgt je nach Art des betriebenen Versicherungsgeschäfts 2,5 Mio. Euro bzw. 3,7 Mio. Euro.
Analog zur kreditwirtschaftlichen Einlagensicherung müssen Versicherer, die die Lebens- oder die Krankenversicherung nach Art der Lebensversicherung zu betreiben gedenken, – mit Ausnahme der Pensions- und Sterbekassen – zum Schutz der Versicherten, Bezugsberechtigten und sonstigen Begünstigten aus dem Versicherungsvertrag dem Sicherungsfonds angehören (§§ 221ff. VAG). Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nicht Gegenstand einer vorherigen systematischen Kontrolle und Genehmigung. Für Pflichtversicherungen und die substitutive Krankenversicherung gilt allerdings die Vorlagepflicht für die AVB bei der Aufsichtsbehörde.
Versicherungsunternehmen aus Drittländern: Unternehmen mit Sitz außerhalb des EWR dürfen nur entweder über eine deutsche Tochtergesellschaft oder aber über eine Niederlassung im Inland tätig werden (Dienstleistungsverkehr ist für diese Erstversicherer nicht erlaubt). Für deutsche Tochtergesellschaften gelten die für deutsche Versicherungsunternehmen geltenden Vorschriften. Für Niederlassungen von Erstversicherern aus Drittländern gelten im Wesentlichen ähnliche Vorschriften.
Widerruf der Erlaubnis: Der Entzug der Erlaubnis ist eines der wichtigsten Aufsichtsmittel der Aufsichtsbehörde, zugleich aber ultima ratio. Die Aufsichtsbehörde wird immer versuchen, zunächst mit den anderen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln etwaige Missstände zu beseitigen (z.B. Abberufung von Vorständen oder ihre Ersetzung durch einen Sonderbeauftragten, § 307 VAG). Die Aufsichtsbehörde kann die Erlaubnis für einzelne Zweige oder insgesamt widerrufen, wenn das Versicherungsunternehmen die Zulassungsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt, geschäftsplanmäßige oder gesetzliche Verpflichtungen in schwerwiegender Weise verletzt werden oder sich so schwere Missstände ergeben, dass die Fortsetzung des Betriebs die Versichertenbelange gefährdet. Widerrufen werden muss die Erlaubnis auch bei Insolvenz des Versicherers. Die Folge des Widerrufs ist, dass keine neuen Versicherungen mehr abgeschlossen und abgeschlossene nicht erhöht oder verlängert werden dürfen.
4. Aufsichtsmittel: Als Mittel zur Informationsgewinnung sind ein allgemeines Auskunftsrecht der Aufsichtsbehörde (§ 305 VAG) sowie spezielle Auskunftsmittel (interne Rechnungslegung, regelmäßige örtliche Prüfungen, Berichte des verantwortlichen Aktuars und Abschlussprüfers, Beschwerden der Versicherten u.a.m.) zu unterscheiden.
Eingriffe der Aufsichtsbehörde: Die Aufsichtsbehörde muss weitreichende, korrigierende Eingriffsmöglichkeiten für den Fall haben, dass die Interessen der Versicherten gefährdet oder gar verletzt sind. Zu unterscheiden ist zwischen einem allgemeinen Eingriffsrecht und speziellen Eingriffsrechten. Das allgemeine Eingriffsrecht ist in der Generalklausel des § 298 I VAG geregelt. Diese Vorschrift ermächtigt die Aufsichtsbehörde, „alle Maßnahmen ergreifen, die geeignet und erforderlich sind, um Missstände zu vermeiden oder zu beseitigen.“ Die Generalklausel ist eine Auffangvorschrift für die Fälle, die von den Spezialvorschriften nicht erfasst werden. Spezielle Eingriffsrechte finden sich an vielen Stellen des Gesetzes, sie können u.a. enthalten: Abberufungsverlangen von Vorständen, Abschlussprüfern, verantwortlichen Aktuaren, die Einsetzung eines Sonderbeauftragten, Änderungen des Geschäftsplans, Verlangen eines Solvabilitäts- oder Finanzierungsplans, die Untersagung einer Beteiligung, Einschränkung oder Untersagung der freien Verfügbarkeit über die Vermögensgegenstände des Versicherungsunternehmens, Zahlungsverbot oder Herabsetzung der Leistungen in der Lebensversicherung, Beendigung unerlaubter Versicherungsgeschäfte, Widerruf der Erlaubnis. In der Praxis macht die Aufsichtsbehörde von diesen formellen Eingriffsrechten nur dann Gebrauch, wenn andere, weniger einschneidende Mittel erfolglos waren. I.d.R. erreicht die Aufsicht ihre Ziele im Weg einer schlicht-verwaltenden Tätigkeit (Hinweisgebung auf gesetzliche oder sonstige Bestimmungen, Ratschläge, Mahnungen etc.). Formelle Interventionen, also Verwaltungsakte, kann die Aufsichtsbehörde im Wege des Verwaltungszwangs nach den Bestimmungen des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes durchsetzen. Sanktionen sind u.a. in den Straf- und Bußgeldtatbeständen des VAG enthalten. Die zuständige Verwaltungsbehörde für das Bußgeldverfahren ist die Versicherungsaufsichtsbehörde.
5. Solvabilität: Seit dem 1.1.2016 ist zur Bemessung der Eigenmittelanforderungen für Versicherungsgesellschaften im EWR das Aufsichts- und Solvabilitätssystem Solvency II in Kraft. Solvency II geht über das vorherige System Solvency I hinaus, indem es eine intensivere, alle Risiken der Versicherer berücksichtigende Aufsicht einfordert sowie mittels europaweiter Rechtskoordinierung Wettbewerbsverzerrungen verhindert und die Transparenz des Geschäfts verbessert. Die Konzeption von Solvency II ruht in Anlehnung an Basel II auf einem Dreisäulenansatz, mittels dem weitere aufsichtsrechtliche Instrumente neben die Eigenmittelanforderungen treten. Erreicht wird so eine Verknüpfung der quantitativen Aufsichtselemente mit solchen qualitativer Art. In Säule I werden quantitative Anforderungen festgelegt. Sie betreffen primär die Eigenmittelausstattung, aber auch die Bewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen und die Kapitalanlage. Versicherer müssen Eigenmittel in Höhe eines Zielkapitals, dem sog. Solvency Capital Requirement (SCR), vorhalten. Dieses wird durch ein von der Aufsichtsbehörde vorgegebenes Standardverfahren oder durch ein von der Aufsichtsbehörde genehmigtes unternehmensinternes Modell festgestellt. Das Unternehmen hat die Wahl, welches Verfahren angewendet werden soll. Unabhängig vom gewählten Verfahren soll das SCR ausreichen, um das Sicherheitsniveau eines Versicherers bei mindestens 99,5 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit über den Zeitraum eines Jahres zu kalibrieren bzw. umgekehrt die Ruinwahrscheinlichkeit auf höchstens 0,5 Prozent anwachsen zu lassen. Neben dem SCR wird eine weitere, niedrigere Eigenmittelschwelle, das sog. Minimum Capital Requirement (MCR) festgelegt, das insbesondere zur Auslösung weitreichender aufsichtsbehördlicher Maßnahmen bei Unterschreitung herangezogen werden soll. Säule II enthält die aufsichtsrechtlichen Überprüfungsmittel (z.B. die Aufsicht über die internen Modelle, Anforderungen an das Risikomanagement und die Geschäftsorganisation). Säule III schließlich behandelt die Berichtspflichten des Unternehmens gegenüber den Aufsichtsbehörden (supervisory reporting in Form eines Regular Supervisory Reporting (RSR)) und den Marktteilnehmern (public disclosure im Form eines Solvency and Financial Condition Report (SFCR)).
6. Europäisches Aufsichtssystem: Zum 1.1.2011 wurde durch Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates ein neues europäisches Aufsichtssystem (European System of Financial Supervision – EFS) geschaffen. Neben den nationalen Aufsichtsbehörden sind nun der Europäische Ausschuss für Systemrisiken (ESRB), drei europäische Aufsichtsbehörden jeweils für den Versicherungssektor (European Insurance and Occupational Pensions Authority – EIOPA), den Bankensektor (European Banking Authority – EBA), und den Wertpapiersektor (European Securities and Markets Authority – ESMA) sowie ein behördenübergreifender Gemeinsamer Ausschuss der europäischen Aufsichtsbehörden (Joint Committee) Teile des Aufsichtssystems.
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